Der Müll im Mittelpunkt
(am) Müll ist schmutzig, Müll stinkt, Müll stört im öffentlichen Raum. Andrea Hebig jedoch ist von Müll fasziniert. Mit ihrer Kamera streift sie seit dem Lockdown regelmäßig durch die Straßen der Neustadt und macht Schwarz-Weiß-Fotos von den Hinterlassenschaften der Dinge, die wir weggeworfen haben. Die Künstlerin arbeitet aktuell an einem besonderen Projekt: „Mülleimer-Portraits“.
Vom Mülleimer zur Skulptur
Andrea Hebig fotografiert Weggeworfenes in der Neustadt

Denn das Jahr 2023 ist in Sachen Müll ein Jubiläumsjahr. „Vor 140 Jahren, im November 1883, hat der Verwaltungschef Eugène Poubelle die Mülleimerpflicht in Paris eingeführt“, berichtet Andrea Hebig. Mit dieser Aktion habe die Entwicklung der organisierten Müllabfuhr begonnen. „Für seine Zeit war das eine tolle Idee“, schwärmt sie. Er habe nicht nur Abfallbehälter installieren lassen, sondern auch damals schon Mülltrennung verordnet. Der Name Poubelle ist übrigens inzwischen die französische Bezeichnung für Mülleimer. In Deutschland ist der Jurist und Diplomat fast unbekannt ‒ zu Unrecht findet Hebig.

Wie ist die Fotografin auf die Idee gekommen, sich auf Müll zu konzentrieren? Die erste Inspiration erhielt sie durch eine Ausstellung von Müllbildern des Künstlers Stuart Haygarth in Großbritannien. Auch die Werke von Objektkünstler Armand Pierre Fernandez und anderen haben sie fasziniert und animiert, sich selbst mit der Materie zu beschäftigen. In Mainz ist die Fastnachtszeit besonders ergiebig für die Jagd nach Müll. Am Morgen nach den närrischen Tagen ist die Künstlerin stundenlang durch Straßen und über Plätze gelaufen und hat benutzte Mülleimer fotografiert. Dabei arrangiert und verändert sie nichts, sondern dokumentiert, was sie vorfindet. An der Schwarz-Weiß-Fotografie mag sie besonders die vielen Grautöne, die dazwischen liegen. „Es ist erstaunlich, welche Street-Art-Installationen beziehungsweise Skulpturen die Mainzer mit ihren Mülleimern hinkriegen“, staunt sie.
Im vergangenen Oktober hat die Fotografin an der Sammelausstellung der Sozialen Stadt zum Thema „Ansichten aus der Neustadt“ teilgenommen. Für ihre Mülleimer-Portraits hofft sie, im Lauf des Jahres eine geeignete Ausstellungsfläche zu finden. „Wenn man Müll betrachtet, bekommt man einen anderen Blick auf die Umgebung“, findet sie. Wir dürfen auf ihre Blickwinkel gespannt sein.

Alltagsflucht und Perspektivwechsel

Die „Fotografie-Gruppe PKF“ ist unabhängig und auf Dauer angelegt. Die derzeit 16 Teilnehmer:innen „sollen zusammenfinden und sich gegenseitig unterstützen“, wünschen sich die beiden. Für neue Ideen und Anregungen sind sie offen. Auch eine Zusammenarbeit mit anderen Projekten, etwa in Schulen, können sie sich vorstellen. Zur Zeit gibt es eine Warteliste; bei Foto-Ausflügen in Stadt, Natur oder Umgebung sind jedoch auch Gäste willkommen.
Fotografie-Gruppe lädt zum Austausch ein
(rs) „Unsere Wirklichkeit ist facettenreich“, sagt Boujemaa Mouatassim. „Der Einzelne sieht meist nur einen Teil des Ganzen.“ Fotografieren hält er für eine ideale Möglichkeit, dem hektischen Alltag zu entfliehen und sich auf neue Blickwinkel einzulassen. Das ist einer der Gründe, warum er die „Fotografie-Gruppe PKF“ ins Leben gerufen hat.
Die Gruppe trifft sich zu gemeinsamen Foto-Exkursionen und zur gegenseitigen Bildbewertung und -evaluierung. Unter Leitung von Mouatassim können die Teilnehmer:innen Grundlagen der Fotografie kennenlernen und dann bei ihren gemeinsamen Ausflügen umsetzen. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich: Fortgeschrittene geben ihr Wissen gerne weiter, etwa in kurzen Präsentationen zu Themen wie Schwarzweißfotografie oder Bildbearbeitung.
Pferdekopf im Schnee
Ursula Fritsch-Ak, die Mouatassim bei der Leitung assistiert, kam selbst im letzten Sommer „völlig unbeleckt“ zum Vorgängerprojekt, dem Fotoworkshop „Blickwinkel Neustadt“ des Caritaszentrums Delbrêl. „Vorher hatte ich kaum fotografiert, bei Bedarf hab' ich einfach draufgehalten“, erinnert sie sich. „Oft kam dabei Müll raus.“ Doch durch die Gruppe fand sie neuen Zugang zur Fotografie. Ihr Spezialgebiet: Sie erkennt Formationen in Strukturen, die andere nicht sehen, „findet“ zum Beispiel einen Pferdekopf im Schnee.
„Fotografie bringt den Menschen vieles näher, was auf den ersten Blick gewöhnlich erscheint“, betont Boujemaa Mouatassim. „Und sie schärft den Blick fürs Detail.“
Der 55-jährige Deutsch-Marokkaner fotografiert seit vielen Jahren leidenschaftlich gerne: „Weil ich mich für Menschen und ihre Umgebung interessiere.“ Er ist Digitalbotschafter in Rheinland-Pfalz, Berater für Neue Medien bei „Neustadt im Netz“ (NiN) und engagiert sich vielfältig in der Neustadt, in der er seit 21 Jahren lebt ‒ und fotografiert.

Entschleunigte Inspiration
Das Hobby, so glauben Ursula und Boujemaa, kann in unserer hektischen Informationsgesellschaft helfen, Druck und Alltag hinter sich zu lassen, zu entschleunigen und sich zu entspannen. „Man kann sich inspirieren lassen und vom ‚ich muss' wegkommen.“ Und das ist jederzeit und überall machbar, solange man zumindest ein Handy dabei hat. Nebenbei wird auch die Wahrnehmung geschärft, der Blick auf Schönes und weniger Schönes in unserer Umwelt.

Die Abkürzung „PKF“ steht übrigens für „Perspektivenwechsel und kreatives Fotografieren“. Um etwas mit anderen Augen zu sehen, neue Facetten wahrzunehmen – dafür reicht es oft schon aus, für ein Bild in die Hocke zu gehen oder sich auf eine Kiste zu stellen. Und dann sieht die Welt manchmal ganz anders aus.